Auf der Mauer, auf der Lauer

Prolog

 

Ihre Schritte hallten militärisch stramm durch die schmale Gasse, als sie sich wie jeden Mittwoch gegen 22 Uhr auf den Heimweg begab. Das sommerliche Wetter lud zu einem gemütlichen Spaziergang ein, aber sie hasste es, in der Stadt zu sein. Dort gab es ihrer Ansicht nach zu viele kriminelle Ausländer. Man liest ja so einiges. Ihren Wagen hatte sie im bewachten Parkhaus abgestellt. Zuhause stand das Cabriolet ausschließlich in der Garage. Das Risiko, dass der teure Speziallack, so wie neulich auf dem Supermarktparkplatz, erneut zerkratzt wurde, war ihr zu hoch. Aus ihrer Handtasche erklang die deutsche Nationalhymne. Wer ruft so spät an?
 »Hallo?«
 »Auf der Mauer auf der Lauer sitzt ...«
 »Sie haben sich anscheinend verwählt.«
 »... ‘ne kleine Wanze.«
 »Arschloch!« Empört legte sie auf. Es gibt zu viele Spinner auf diesem Planeten, überlegte sie, steckte ihr Handy zurück in die Tasche und kramte ihr Parkticket heraus. Da vorne rechts um die Ecke, etwa 100 Meter bis zum Eingang des Parkhauses, dann war sie da. Sie strich ihr Designerkostüm glatt und freute sich darüber, dass es auch nach fünf Jahren noch immer so perfekt saß. Deutsche Wertarbeit eben - und sie hatte ihr Gewicht all die Jahre gehalten.
Plötzlich wurde es dunkel. Die Panik, die in ihr aufstieg, verpackte sie, so wie sie es in ihrem Dojo gelernt hatte, in eine kleine Box, die sie gleich darauf in Gedanken verschloss. Konzentriert versuchte sie danach, die Lage zu analysieren. Das, was ihr da über den Kopf gezogen wurde ... war das Leder? Außerdem roch es irgendwie nach Reinigungsmitteln.
 »Seht euch mal die Wanze an ...« Den Rest hörte sie nicht mehr, denn das letzte, was sie spürte, war der unerträglich stechende Schmerz von etwas Spitzem, das sich durch ihre geschlossenen Augenlider in ihren Kopf bohrte. Die Augäpfel knackten, als die Fremdkörper in sie eindrangen. Sie wollte schreien, aber ihr gesamter Körper war wie gelähmt. Vergessen war das Erlernte, und unendliche Panik breitete sich nun in ihr aus. Ihr war klar, dass ihr Leben am seidenen Faden hing und von dem Willen irgendeines kranken Geistes abhing. Schließlich umklammerten ihre krampfenden Hände ihre Handtasche und das Parkticket, obwohl sie schon längst das Bewusstsein verloren hatte.

 

1

SecCar-City Parking

 

In der kleinen Seitenstraße war alles still, so wie immer um diese Uhrzeit. Man hörte nur ein Surren, das von einem Elektromotor stammte. Begleitet wurde der Singsang von einem schabenden Geräusch. So, als schleifte etwas über den Boden. Nach einem kurzen Moment der Stille wurde eine Hydraulik aktiv. Anfänglich klang es wie Metall, das auf Asphalt kratzt, anschließend hörte man nur noch die Pumpe, die schon nach wenigen Sekunden verstummte. Wieder war es still. Eine Autotür wurde geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen. Ein kräftiger, amerikanisch klingender Motor heulte auf und entfernte sich von diesem Platz, der genau im toten Winkel zweier Überwachungskameras lag, deren Aufzeichnungen von dieser Nacht aufgrund ihrer Bedeutungslosigkeit bereits nach 48 Stunden gelöscht wurden.

»Der steht da jetzt schon zwei Wochen.« Evgeny stand im Überwachungshäuschen und wandte seinen Blick in Richtung Einfahrt. Er stellte fest, dass wieder jemand nicht mit dem Kartenleser zurecht kamzurechtkam. Wo hatten die nur alle Autofahren gelernt?
 »Ja und? Auch wenn der drei Monate da steht ... Dann zahlt der Kunde eben für drei Monate. Warum rufst du mich wegen solcher Kleinigkeiten zuhause an? Kann das nicht bis zum Schichtwechsel warten?«, fragte Stephan Kranich, dem das Parkhaus gehörte. »Weißt du eigentlich, wie lang und steinig der Weg bis zur Eröffnung war? Ich habe es geschafft. Ich zahle meine Kredite zurück. Alles läuft wie am Schnürchen. Solche Kunden bringen mir eine Menge Geld in die Kasse.«
 »Ich dachte nur, weil ich die Frau schon oft gesehen habe. Sie kommt immer mittwochs, bleibt drei Stunden und fährt so kurz nach 22 Uhr wieder weg.« Evgeny wollte doch einfach nur seinen Job gut machen.
 »Stalkst du jetzt schon unsere Kunden?«
Evgeny hörte durch den Hörer die Mikrowelle piepsen.
 »Warte kurz … ich muss diese heiße Tasse rausholen. Seit Gaby weg ist, gibts nur noch Fast Food. Ich werde immer fetter.«
Evgeny nahm sich etwas zurück. Er durfte nichts Falsches sagen, denn er brauchte diesen Job. Nirgendwo sonst hatte er so viel Zeit, sich mit seiner Schriftstellerei zu beschäftigen. Etliche Nächte, in denen kaum etwas los war, hatte er dort bereits schreibend verbracht. »Weißt Du, Stephan, die Frau ist mir aufgefallen, weil sie so ...«
 »So was? Weil sie so was? Jetzt sag schon!« Evgeny konnte hören, dass Stephan sich ein Dosenbier öffnete. Vielleicht war das der eigentliche Grund, warum Gaby seinen Chef verlassen hatte. In letzter Zeit kamen da gut und gerne sechs bis acht Dosen Kölsch am Abend zusammen, wenn Evgeny ihn da richtig verstanden hatte.
 »Klingt vielleicht doof. Weil sie so deutsch ist. Sie hat irgendwie alle Eigenschaften einer deutschen Frau. Ja, Stephan. Deutscher geht nicht.«
Evgeny hörte das Lachen aus dem Hörer. »Ja, und weil sie so deutsch ist, ist es ungewöhnlich, dass sie ihren Wagen länger stehen lässt.«
 »Ja, genau. Vielleicht ist ihr was passiert.«
 »Eugen ...« Stephan schlürfte laut den Schaum von seiner Bierdose.
 »Evgeny!«
 »Ist doch das gleiche. Die Krimis, die du da schreibst, das ist doch alles Phantasie. Das reale Leben sieht ganz anders aus. Da wird schon nichts passiert sein. Vielleicht ist sie in Urlaub geflogen und hat sich gedacht, dass sie ihren Wagen besser bei uns abstellt als auf der Straße. Das wird alles sein. Bei dir sind immer alle gleich verdächtig.«
 »Ich habe dir Bescheid gesagt. Meine Aufgabe ist erledigt. Ruf die Polizei oder lass es sein. Mir egal.«
 »Ja, OK. Danke, mein Freund. Ach übrigens. Wie heißen nochmal diese Teigringe, an denen man sich die Zähne ausbeißt?« Evgeny freute sich darüber, dass sein Vorgesetzter, der gleichzeitig sein Freund war, seine selbstgekochten Speisen so gerne aß. Stephan liebte Essen und das sah man ihm inzwischen an. Im letzten Jahr hatte er bestimmt zehn Kilo zugenommen.
 »Bubliki.«
 »Genau. Kannst du mir nochmal welche davon mitbringen? Die waren lecker.«
 »Liegen schon im Schrank. Kannst dich bedienen.«
 »Ah. Prima. Danke. Wir sehen uns dann später. Ich löse dich zur Frühschicht ab.«
 »Alles klar. Schlaf gut, mein Freund.« Evgeny legte auf, schaute gründlich auf seine Überwachungsbildschirme und erkannte zufrieden, dass es heute nach einer ruhigen Nacht aussah. Die kleine Kaffeemaschine röchelte ihre letzten Wassertropfen in den Filter. Der Laptop war aufgeladen. Neben ihm lagen drei russische Konfekte. Er holte noch schnell das Foto seiner Frau Natalie aus der Schublade und stellte es so hin, dass er es beim Schreiben sah. Dann klappte er den Rechner auf, goss sich eine Tasse Kaffee ein und begann zu tippen. Wenn Evgeny seine Romane schrieb, konnte er alles um sich herum vergessen. Das war leider bitter nötig, denn vor zwei Jahren hatte er seine Tochter Katja verloren. Ein Lkw-Fahrer hatte sie beim Abbiegen übersehen. Er war einfach über sie gerollt und hatte es zuerst nicht einmal bemerkt. Katja war sofort tot gewesen. Ihr Leben wurde so abrupt beendet, obwohl noch so viel vor ihr lag. Sie durfte nur 19 Jahre alt werden.
Evgeny schüttelte betrübt seinen Kopf und schrieb seufzend weiter.

2

Unsanfte Träume

 

Das ihm nur allzu gut bekannte Jaulen einer Sirene riss Kommissar Raimond Schubert aus dem Tiefschlaf. Die Titelmusik aus Ghostbusters hatte er schon seit Jahren als Klingelton auf dem Handy. Er liebte diesen Film. Bill Murray war so angenehm vertrottelt. Inzwischen tönte es aus dem Telefon laut: »who you gonna call?«
 »Ghostbusters« Das sang er immer mit, auch wenn er im Moment ziemlich verwirrt war. Kein Wunder, nach all dem Grappa. Sein Kollege Enzo hatte es wieder zu gut mit ihm gemeint. Die nicht ganz ungefährlichen Einsätze der vergangenen vier Wochen hatten ihn extrem erschöpft. Da draußen tobte ein gnadenloser Krieg zwischen rivalisierenden Banden. Allein in den letzten sieben Tagen hatte es drei Todesfälle durch Schusswaffen gegeben. Raimond griff nach seinem Telefon und drückte den Anruf weg. Mit verschwommenem Blick konnte er die Uhrzeit auf dem Display erkennen. Es war 13 Minuten nach zwei, und zu einer solch unchristlichen Zeit riefen ihn nur Lebensmüde an. Wieder jammerte die Sirene durch die Nacht. Neben ihm raschelte es im Bett.
 »Was ist denn los?« Ups, das war eine Frauenstimme. Er konnte sich kaum erinnern. Moment, da war doch so eine Sabrina, oder hieß sie Mandy? Egal. Ohne ihr zu antworten, nahm er den hartnäckigen Anrufer an. Raimond sagte nichts, so wie immer, wenn er ein Gespräch annahm. Er hielt sich den Hörer ans Ohr, fischte die Zigaretten vom Nachttisch, holte eine aus dem Päckchen und zog den Filter mit den Zähnen heraus. Das Zippo klackte auf. Der Kommissar inhalierte den Duft des Feuerzeugbenzins.
 »Komm bitte sofort zum Barbarossaplatz. Ich erkläre es dir später.« Das war sein Kollege und Freund Enzo. Die beiden brauchten nicht viele Worte. Der Italiener hatte schon aufgelegt. Das Aufstehen fiel Raimond nicht leicht. Sein Magen drehte sich fast um. Außerdem hatte er furchtbar stechende Kopfschmerzen. Und dann war da noch diese Mandy, oder hieß sie doch Sabrina? Mann, hatte die einen geilen Arsch. Trotzdem war ihm Enzo jetzt wichtiger. Er spülte sein Aspirin, das er aus Gewohnheit in seinem Nachttisch lagerte, mit etwas abgestandener Cola herunter, zog sich gleichzeitig die Jeans über seinen nackten Hintern und nahm sich ein frisches T-Shirt aus dem ordentlich gefalteten Stapel im Regal. Dann schlüpfte er barfuß in seine Creepers. Raimond griff in den Safe, den er mit ein paar geübten Drehungen geöffnet hatte, nahm seine Dienstwaffe und das Magazin heraus und steckte sie in sein Halfter. Wo war bloß das Handy? Er schlich zurück ins Schlafzimmer. Dort lag es auf dem Bett, direkt neben dem Knackarsch. Wow, was habe ich für einen ausgezeichneten Geschmack, stellte Raimond zufrieden fest. Er schaute auf das Display. Draußen waren es 14 Grad. Er entschied sich für die Wildlederjacke. Dann nahm er den Schlüsselbund aus der Glasschale neben dem Eingang und stieg mit dem Akkurasierer am Kinn in den Lift, der ihn aus seiner schicken Penthouse-Wohnung in die grausame Welt hinaus führtehinausführte. Auf dem Weg in die Tiefgarage rasselte sein Elektrorasierer über sein stoppeliges Gesicht. Raimond hatte viel Übung darin, sich auf dem Weg frisch zu machen. Er stieg in seinen alten Opel Admiral, legte sein Telefon und die Dienstwaffe auf den ledernen Beifahrersitz und schaltete die Zündung an. Was für ein Auto! Kosmosblau. Das war genau die gleiche Farbe, die sein Vater damals hatte. Die 160 PS heulten auf, obwohl er nur leicht aufs Pedal trat. Er drückte die Kassette rein und Chuck Berry führte sein Roll Over Beethoven fort, das er beim Beenden der letzten Fahrt unsanft unterbrechen musste. Nachdem er die Lenkradschaltung in den ersten Gang bewegt hatte, setzte sich der Wagen majestätisch in Bewegung.
Ohne Onkel Bernd hätte er sich das alles nicht leisten können. Sein Onkel war ein Genie. Er hatte immer den richtigen Riecher, wenn es darum ging, aus Geld mehr Geld zu machen. Onkel Bernd hatte keine eigenen Kinder, aber seinen Neffen Raimond liebte er wie ein eigenes. Vor fünf Jahren ist er dann bei einem Ausflug in den Bergen abgestürzt. Zwei Tage später war er tot und hatte Raimond über Nacht zum Alleinerben über sein gesamtes Vermögen gemacht. Raimond hatte sich nie etwas aus materiellen Dingen gemacht, aber als das Penthouse zum Verkauf stand, hatte er sich die Wohnung einfach gekauft. Auch der Opel war eine der wenigen Ausnahmen, die er sich gegönnt hatte.
Aus der Tiefgarage heraus steuerte er den Oldtimer auf die Aachener Straße. Das Handy brüllte »Ghostbusters«. Es schien schon länger geklingelt zu haben, aber die Musik war zu laut. Raimond schaute auf das Display und bemerkte nur beiläufig, dass im selben Moment der gesamte Innenraum des Oldtimers orange ausgeleuchtet wurde.
 »Scheiße!« Er hatte den Anruf angenommen und hielt sich den Hörer ans Ohr. Die Tachonadel zeigte 65 km/h, erlaubt waren 50. Das war noch im Verwarnbereich.
 »Was heißt hier Scheiße? Bist du auf dem Weg, oder hast du dich schon wieder hingelegt?« Warum musste Enzo immer so schreien, und was machte ihn um diese Uhrzeit so munter? Er hatte doch mindestens genau sovielso viel getrunken wie Raimond.
 »Nein. Ich bin nur ...«
 »Kommst du jetzt oder nicht? Der ganze Barbarossaplatz ist gesperrt.«
 »Bin gleich da.« Raimond warf das Handy wieder auf den Beifahrersitz. Er hörte, dass Enzo ununterbrochen in das Telefon brüllte. Aber seine Kopfschmerzen waren so hämmernd, dass er sich das besser nicht antat.
Als er schließlich mit seinem alten Opel auf den Barbarossaplatz fuhr, lösten die Beamten das Absperrband. Man kannte sich.
 »Raimond! Endlich!« Enzo lief auf ihn zu. Das sah immer wieder komisch aus. Er war etwa 1 Meter 58 klein und hatte proportional dazu ziemlich kurze Beine, mit denen er wie eine Ente watschelte. Seine DC-Schuhe wirkten viel zu groß, die weißen Jeans waren ihm zu lang, weshalb er sie unten dreifach umgekrempelt hatte. Raimond hatte ihm schon oft dabei zugesehen und sich gefragt, warum Enzo sich seine Hosen nicht einfach kürzen ließ. In seinem lachsfarbenen, frisch gebügeltemgebügelten Hemd sah er so gar nicht nach dem Menschen aus, mit dem Raimond noch vor ein paar Stunden in dessen Garten Grappa gesoffen hatte. Nein, Enzo wirkte ausgeschlafen und wie frisch aus dem Ei gepellt.
 »Komm schnell mit, wir müssen den Tatort freigeben!« Er zog seinen Kollegen am Ärmel hinter sich her und lief mit ihm quer über den Platz. Die gesamte Kreuzung war von Einsatzkräften gesperrt worden. Die Spurensicherung war offensichtlich schon länger vor Ort.
 »Ich habe der SpuSi gesagt, dass sie noch nichts verändern sollen.« Nur die Stelle direkt vor dem Eingang des Supermarktes war mit Sichtschutzwänden abgeschirmt. Große Strahler leuchteten dahinter jeden einzelnen Winkel aus. Raimond rechnete damit, gleich eine Leiche zu sehen zu bekommen. Sein Kollege zog ihn hinter die Absperrung.
 »Du willst mich wohl verarschen? Dafür holst du mich her? Mitten in der Nacht?« Raimond drehte sich weg, um den Rückweg anzutreten. Doch Enzo stellte sich in seiner vollen Körpergröße breitbeinig in den Weg. »Sieh dir das bitte erst genauer an.«
 »Was soll ich mir da ansehen? Hier hat wieder so ein abgedrehter Künstler ein Happening veranstaltet. Für so was habe ich keine Zeit. Wir sind die Mordkommission, schon vergessen? Ich gehe jetzt nach Hause.« Er beugte sich zu seinem Partner und flüsterte ihm zu: »Hast du vielleicht eine Ahnung, wie die Kleine heißt, die ich mit nach Hause genommen habe?«
 »Du bist wohl verrückt? Du solltest sie zu ihrer WG bringen, nicht ficken!« Enzo raufte sich die Haare. »Hätte mir eigentlich klar sein müssen, dass du nicht die Finger von meiner Cousine lassen kannst.«
 »Cousine? Die ist doch gar nicht so hässlich wie du ...«
 »Halt jetzt die Klappe! Darüber reden wir später. Komm!« Wieder zubbelte Enzo an Raimonds teurer Wildlederjacke und zog ihn Richtung Boden.
 »Da schau, ein Ring!«
 »Ein Ring! Soll ich deine Cousine jetzt heiraten? Bist wohl verrückt ...«
 »Nein, du Idiot! Der Ring war in der Wurst!«
 »Das ist keine Wurst, das ist Flönz! Du beleidigst meinen kölschen Stolz!«
 »Flönz ist auch nur Wurst!«
Raimond sah sich den vermeintlichen Tatort genauer an. Im Eingangsbereich des Supermarktes lag eine rote Einweg-Tischdecke, deren Mitte mit einem runden, weißen Tuch abgedeckt war. Darauf lagen dunkle Blutwürste, die in Form eines Hakenkreuzes ausgelegt waren. Eine der Würste war außen beschädigt. Davor lag ein ziemlich teuer aussehender Damenring mit einem eingefassten Edelstein. Am unteren linken Rand des roten Tuches lag ein weißes Pappschild, auf dem stand:


 »Geschmackloser Scheiß.« Raimond holte seine Zigarettenschachtel aus der Jackentasche, nahm eine heraus und entfernte erneut den Filter mit den Zähnen. Mit dem altbekannten Klacken sprang sein Zippo auf. Er zündete sich die Zigarette an und drehte sich demonstrativ um. Er war Mordermittler, für solche Kinkerlitzchen hatte er keine Zeit.
 »Kann schon sein, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich hier nicht um Kunst handelt. Wir haben es hier mit einem perversen Geistesgestörten zu tun.«
 »Das ist doch albern. Junge, das ist Flönz, mehr nicht. Vielleicht ein ehemaliger Angestellter des Supermarktes. Höchstens ein wenig verwirrt. Sieh dir das Schild an. Vielleicht ist es sogar nur ein Kinderstreich.«
 »Kinderstreich? Wie kommst du denn da drauf?«
 »Na, der Text. Auf der Mauer auf der Lauer. Das ist ein Kinderlied. Genau so kindisch wie ein Hakenkreuz aus Flönz.«
Enzo schüttelte den Kopf und fuchtelte beim Reden mit den Händen. Das tat er andauernd. Raimond hatte ihm schon so oft gesagt, dass er ihm nicht vor dem Gesicht herumwedeln solle, aber er machte es immer wieder. »Das ist keine Flünz ...«
 »Flönz, Junge! Begreif es endlich!«
 »Dann Flönz. Ich glaube, dass sie aus Menschenblu ...«
 »So ein Blödsinn. Du meinst, nur, weil daneben ein Ring liegt, muss die Wurst aus Menschenfleisch sein?« Raimond aschte auf die Tischdecke. Er hatte noch nie Respekt vor den Regeln, die an einem Tatort galten. »Ich fahre nach Hause. Das Fleisch, das da auf mich wartet, ist viel interessanter.«
 »Raimond! Lass meine Cousine in Ruhe, sonst bekommst du Ärger.«
 »Keine Angst. Ich bestelle ihr ein Taxi.« Eigentlich meinte Raimond den Schinken, den er im Kühlschrank hatte, aber Enzo hatte ihn auf eine bessere Idee gebracht.
 »Kann die Spurensicherung loslegen?«, fragte Enzo.
 »Mann, hast du es immer noch nicht verstanden. Das ist kein Tatort, das ist ein schlechter Scherz.«
 »Das werden wir ja sehen. Ich wette eine Flasche Grappa, dass die Wurst aus Menschen gemacht wurde.«
 »Nein, das mit dem Grappa lassen wir jetzt erstmal. Drei Ringe Flönz, dass es sich um Wurst vom Schwein handelt«, sagte Raimond, während er in den Wagen stieg.
 »Du bist ekelhaft. Ich esse nie wieder Blutwurst.«
Chuck Berry hatte Enzos letzten Satz bereits übertönt. Raimond wendete sein riesiges Schlachtschiff aus längst vergangenen Zeiten und ließ seinen Partner in einer Abgaswolke stehen, die nach unvollständig verbranntem Benzin roch.
Was hatte Enzo sich nur dabei gedacht, zu vermuten, dass es sich um Blut von Menschen handeln könnte. Manchmal ging ihm einfach die Phantasie durch. Vielleicht war es ja auch wirklich so, dass irgendjemand Leute tötete und sie zu Wurst verarbeitete. Aber was würde das für einen Sinn ergeben? Warum sollte sich jemand eine solche Arbeit machen? Wenn es sich tatsächlich um Menschenblut handelte, dann konnte die Tat nur von einem kranken Psycho begangen worden sein. Nein, das ergab überhaupt keinen Sinn. Es war bestimmt ein Kunsthappening, ein ziemlich perverses zwar, aber doch sicher nicht mehr. Außerdem hatte es Raimond den Schlaf gekostet, den er nach der Party dringend nötig gehabt hatte. Chuck Berry schmetterte sein Lied, und ein orangenes Licht erhellte die Aachener Straße. »Scheiße!«, das würde ihn wieder einiges an Schreibkram kosten. Warum war eigentlich ganz Köln mit Blitzern zugemüllt?